Die Reise

Bonn

Natürlich konnte Bonn mit der geriatrischen Stadt nicht konkurrieren, und das wollte sie wahrscheinlich auch nicht. Dieser Spielzeug-Regierungssitz hatte zwar einen Fluss, ein Parlament und eine Art U-Bahn, aber als mein Zug durch die Außenbezirke fuhr, fand ich es schwierig, sie als Weltstadt anzusehen. Es fehlte so viel, das zu einer großen europäischen Hauptstadt gehörte: stolze Monumente, prächtige Gebäude, Armutsviertel. Aber war das so schlecht? Vielleicht, dachte ich, wohnte ich im falschen Land. Ich könnte doch meinen Sprachunterricht ernster nehmen, drei Mal pro Wo-che das Goethe Institut besuchen, einen Job in einer ruhigeren Metropole suchen. Aber das Essen. Die ganzen Regelungen. Und die Volksmusik. Der Zug hielt an. Ich stieg schnell aus dem Traum heraus.

Abgestiegen im Reich der Bonner Stadtbahn stand ich dann so lange vor einer Wandkarte, dass ein freundlicher älterer Herr mir seine Hilfe anbot und mir in sehr gutem Englisch den Weg zu meinem Ziel in der Moltkestraße erklärte; die Strecke wäre sehr einfach: Vom Hauptbahnhof müsste ich eine bestimmte Linie eine Viertelstunde zur Plittersdorferstraße nehmen, dann hätte ich nur einen kurzen Spaziergang von fünf Minuten bis zur Botschaft. Solche Begegnungen machen einem eine ganze Stadt plötz-lich noch sympathischer, und mit einem warmen Gefühl Bonn gegenüber und Optimismus für den Ablauf des Tages machte ich mich auf den Weg zum Gleis…..

Leipzig

Die Eisenbahn gehört zu einer Reihe britischer Erfindungen, wie auch Fußball, öffentlich-rechtliches Fernsehen und organisierte Arbeitsniederlegung, die die Deutschen heutzutage längst besser machen als die Briten. Die völlig planmäßige Reise nach Leipzig war daher keine Überraschung, und nach der langen Fahrt von Westen nach Osten rollte der Zug minutengenau in den Leipziger Bahnhof ein, um die nächste Etappe meiner Suche zu beginnen.

Obwohl ich viel in den heimischen Medien über die Bedingungen in den neuen Ländern gesehen und gelesen hatte, fand ich den Zustand vieler Häuser und Geschäfte vier Jahre nach der Wende ziemlich schockierend. Natürlich war mir klar, dass sich die blätterigen Fassaden und sich zersetzenden Mauern jeden Tag in eine blühende Landschaft wandeln könnten, aber im Moment vermittelte die Szene viel mehr Abbruchsstimmung als Aufbruchsstimmung. Irgendwie, dachte ich, als ich die fünf Minuten vom Bahnhof zur Universität ging, macht das Wort „Wende“ alles zu einfach. Es ist kurz, alltäglich, schnell und einfach gesagt, und eine Enttäuschung für Ausländer, die ihren Zungen mühsam „Wiedervereinigung“ beigebracht haben. Dieses Wort dagegen ist lang, unmissverständlich und schwieriger zu beherrschen und passt wesentlich besser zu dem ganzen Verfahren. Wenden kann jeder; Wiedervereinen ist anstrengend, wie Sie besser wissen als ich….

 

München

…und bei leichter werdendem Schnee und weniger werdendem Verkehr eilten wir durch Eching, Garching, Schwabing und Überflüssing, ohne sie zu registrieren, bis wir kurz nach neun Uhr abends das alte Kloster in der Isarvorstadt erreichten.
Friedhard schaltete den Motor aus und seufzte. „Na, endlich. Da sind wir, Peter. Willkommen bei den Schwestern der Halbherzigen Gnade.“

 

Salzburg

…Die praktische Brücke, die mich am Morgen vom Mirabell-Garten zum Mönchsberg geleitet hatte, erwies sich als zuverlässig; sie hatte sich im Laufe des Tages nicht von der Stelle bewegt und bot uns jetzt einen günstigen Fluchtweg zum rechten Ufer. Direkt über uns blitzte es wieder und dann wieder, verhältnismäßig nasser Schnee wehte immer stärker in unsere Gesichter und machte die gestreute Straße unter unseren Füßen wieder gefährlich glatt. Der gewaltige Donner hallte von den Bergen, überschwemmte die Stadt, rollte über den Steg und rüttelte an meinen Knochen. Über die gesalzenen Straßen Salzburgs pfefferte es aus dem unheimlichen Himmel….

 

London

… war ich gutgelaunt und unglaublich froh, die geriatrische Stadt wiederzusehen. Sogar das Graffiti hatte ich vermisst. Auf den Bahndämmen und in den Tunneln begrüßten mich die alt-bekannten Botschaften; unanständig, unhöflich, ungrammatisch hatten sie mein Pendeln seit Jahren begleitet. Für einige politische Äußerungen hatte ich inzwischen Verständnis entwickelt, bei anderen eher persönlichen Mitteilungen hatte ich mir längst die Geschichten der Beteiligten im Detail ausgemalt. Das gehörte alles einfach zur Reise dazu.

Angekommen bei meiner lokalen Station und nach einem Umweg zu einem chinesisch geführten Lund-um-die-Uhr-Lebensmittelladen, ging ich die kurze Strecke nach Hause. Um meine Füße flogen die letzten der Herbstblätter, hartnäckige Vertreter, die trotz des Wetters bis zum Ende ihre Bäume nicht verlassen wollten. Das gelbe Licht der Natriumlampen wurde überall in den Pfützen des letzten Schauers reflektiert; in der Tür einer Kneipe sangen drei betrunkene Männer laut über ihre Vorliebe für Tottenham Hotspurs; alte Zeitungen und Essensverpackungen von dem indischen Schnellimbiss dekorierten den Bürgersteig. Es war gut, zu Hause zu sein….

Aquarell von Jörg Wörsching

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